Eine Kiste voller Blech
Nach einem Kinobesuch in Berlin entdeckte Iris Alter ein zerbeultes Blech in einer Strassenrinne. „Ich wusste sofort, das ist genau der Gegenstand, den ich für mein nächstes Bild gebrauchen kann. So etwas passiert mir öfter, ich nenne es „le hasard guidé“, den geführten Zufall. Ich nahm es mit in meinem Koffer nach Paris und legte es in meine Schatzkiste“.
Iris Alter sitzt leger gekleidet in ihrem gläsernen und lichtdurchfluteten Atelier im 13. Arrondissement von Paris. Auf einem mobilen Servierwagen mit mehreren Etagen befinden sich Pinsel in verschiedenen Größen, Farbtuben, Spachtel und Mischpaletten. Ein großer Arbeitstisch ist mit Zeichenutensilien, Buntstiften und Modelliermasse bedeckt. Regale sind gefüllt mit Büchern über Kunst, Kunstgeschichte und verschiedenen künstlerischen Techniken. An den Wänden hängen verschiedene ihrer Kunstwerke. Das Atelier lädt mit seinen teilweise verschlüsselten Kreationen zum Nachdenken über gesellschafts-politische und soziale Zusammenhänge ein. Die Künstlerin schafft ihre eigenen Welten, in denen gleichzeitig Poesie und Schönheit zum Träumen verführen sollen.
Die studierte Ökonomin aus Saarbrücken begann eine vielversprechende facettenreiche Karriere, die unter anderem vom Bundeswirtschaftsministerium in Bonn bis zur Weltbank in Washington reichte. Neben ihrer beruflichen Tätigkeit widmete sie sich gleichzeitig ihrer Liebe zur Kunst. Sie nahm Unterricht bei dem amerikanischen Kunstmaler Gerald Wartofsky, von dessen Magie in seinen Bildern Iris sich angezogen fühlte. Seine Werke zeichnen sich durch ihre einzigartige Kombination aus Realismus und Fantasie aus und schaffen eine surreale Atmosphäre, die den Betrachter in eine andere Welt entführt. Wartofskys Gemälde sind oft von mystischen Themen und Symbolik geprägt.
Nach ihrem Umzug nach Paris folgt Iris Alter voll und ganz ihrer Berufung als Künstlerin. „Für mich bedeutet Kunst vollkommene Freiheit. Meine Themen entstehen jeden Tag aus der Auseinandersetzung mit dem Alltag und dem Zeitgeschehen. Ich wähle sie, sie wählen mich. Ich verspüre den unwiderstehlichen Drang, meine Überlegungen und Gefühle zu kommunizieren, in unserer gemeinsamen Sprache jenseits der Sprache, der Kunst“, sagt sie. Ihre Vorbilder sind der niederländische Maler Hieronymus Bosch, dessen Werke oft voller Symbolik und Allegorien sind, und eine Mischung aus religiösen, mythologischen und fantastischen Elementen darstellen. Ebenso verfolgt sie stetig die Kunstwerke des zeitgenössischen Malers und Bildhauers Anselm Kiefer.
Es fing alles früh an. Als Einzelkind fühlte sie sich in der Erwachsenenwelt einsam und gelangweilt. Sie begann, sich ihre eigenen kleinen Welten zu schaffen, aus gefundenen und gesuchten Objekten, oft aus der Natur. Doch die Magie und Schönheit, die sie in ihren Bann zog, wurde von den Erwachsenen als nutzlos und damit wertlos abgetan. Sie war entmutigt. Erst viele Jahre später, als sie sich mit Kunstgeschichte befasste, verstand sie, dass es etwas war, das man im Kunstjargon als Assemblage bezeichnen würde. Die Faszination, die diese Fundstücke bei ihr auslösen, ist über die Jahre geblieben. Sie werden oft zu den Stars ihrer Kreationen.
Iris Alter arbeitet spontan. Sie fertigt keine Skizzen oder Modelle an, lässt ihrem Einfallsreichtum freien Lauf. Großen Wert legt sie auf Interaktivität zwischen sich selbst und ihrem Werk. „Ich habe eine grobe Idee, weiss so ungefähr, wo ich hin will. Dann sehe ich, was passiert und lasse mich lenken. Ist das Bild fertig, entwickelt es sein eigenes Leben. Jeder Betrachter hat seine individuellen Interpretationen und das ist phantastisch, weil es partizipativ wird“, sagt sie. Sie produziert ihre Werke nicht in erster Linie mit der Perspektive, sie zu verkaufen. Denn die Kraft der Kunst, die in ihr steckt, muss sich darin Luft machen. Ihr Schaffen zeichnet sich durch ein Nebeneinander unterschiedlicher Materialien, Formate und Techniken aus, von Objektmalereien und Landschaftsbildern bis zu Collagen in Farbe oder monochrom. Die Fundstücke landen bei der Kreativen zunächst häufig in einer Kiste, bis die Idee für den passenden Einsatz gereift ist. Ihren künstlerischen Stil bezeichnet Iris Alter als bukolisch, poetisch und engagiert.
Aus einem plattgefahrenen Auspuff eines Motorrads kreierte sie das Netz, das afghanische Frauen in ihrer Burka tragen. Sie nennt es „Le visage volé“ (das gestohlene Gesicht). Das Pendant zu diesem Bild „Der gestohlene Körper“, das ebenfalls überlebensgroße Gemälde einer nackten Prostituierten, trägt als Accessoire ein Antennenstück, zwei Ketten für Badewannenstöpsel und farbige Netze von einem Basar in Marrakesch. Ihre Collage „La mariée scie heureuse“ zeigt ein Hochzeitskleid aus Tarlatane, einem Baumwollstoff mit einem lockeren Gewebe, mit einer rostigen Säge, die das Herz bedroht. Es denunziert nicht nur Zwangsheirat, sondern beinhaltet im Französischen auch ein Wortspiel. Übersetzt heißt es „Die SO glückliche Braut“, wobei im französischen das Wort für SO genau so klingt wie Säge, es wird also zur „Sägenbraut“.
Die „Joconde de Bagdad“ (die Mona Lisa von Bagdad) zeigt das Porträt einer arabischen Mona Lisa, verschleiert mit einem blau bemalten Kartoffelsack, deren magnetische Augen wie bei da Vinci den Betrachter von jedem Winkel aus ansehen. Sie wird zu einer Ikone für die Unantastbarkeit der Würde der Frau sowie ein Plädoyer für Toleranz. In dieser Arbeit verleiht Iris Alter der damals in Frankreich aktuellen brisanten gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung über die Duldung der Verschleierung einen kunsthistorischen Bezug. Exakt 500 Jahre zuvor malte Leonardo da Vinci die Mona Lisa, vermutlich ein Porträt der Frau seines Auftraggebers, eines reichen venezianischen Kaufmanns namens Jocondo. Das Porträt sollte der Würde seiner Frau Ausdruck verleihen – ein Geschenk, mit dem er sie zu ehren gedachte.
Die bedeutendste Frauenrechtsbewegung „Ni putes Ni soumises“, entstanden im Jahr 2003, die auf die Lage der Frauen in den französischen Banlieues aufmerksam macht und sich für Frauenrechte einsetzt, lud Iris Alter zu einer Ausstellung ihrer Serie über die Würde der Frau ein.
„Ich übersetze in meinen Gemälden Dinge, die in der Gesellschaft passieren, Botschaften ohne Worte, die zum Überlegen und Interpretieren anregen“. So entstehen Arbeiten über Krieg und Frieden. „La Victoire“ (der Sieg) ist ein Bild über die Sinnlosigkeit des Krieges. Es zeigt eine Szene der Zerstörung mit einem kaputten Triumphbogen. In derselben Serie gibt es großformatige Bilder über die Gefangenen in Guantanamo, die Folterungen in Abu Ghraib, den elften September. Illegale Verhöre unter Folter setzt Iris Alter mittels eines rostigen alten Rahmens, den sie zwischen Baustellenmüll gefunden hatte, in Szene, um das Eingesperrtsein und das Elend der Folter zu thematisieren. Dabei ist auch ein zweieinhalb Meter hoher Turmbau von Babel Symbol für die Unfähigkeit der Menschen, sich über Länder- und Kulturgrenzen hinweg zu verständigen.
Mit Sinn für Humor versteht sie auch immer wieder, wie bei der „Sägenbraut“ mit Worten zu spielen, wenn sie aus ein paar Schrottgittern und -drähten einen „Petit Sac Chanel oder wie man ein gebrochenes Herz tröstet“ zusammenfügt und damit auch gleichzeitig einer konsumorientierten, gefühlsarmen Gesellschaft den Spiegel vorhält.
Aktuell arbeitet Iris Alter an einer Serie zu Umweltthemen. Das Bewusstsein für die Umwelt entwickelte sich bei den Menschen in Frankreich erst sehr viel später als in Deutschland. Es entstehen Bilder von Eisbergen, die schrumpfen. Der erste ist groß, der zweite wird kleiner und am Ende ist nur noch das Phantom eines Eisbergs vorhanden, alles ist grün geworden. Bei ihren Bildern, die von bedrohten Wäldern, Blumen und Arten reden, herrscht oft eine magische und poetische Atmosphäre. Ein französischer Kritiker schrieb, dass bei diesen Arbeiten ihr deutscher Ursprung mitspiele, denn er fühlte sich fast wie bei einer geheimnisvollen Geschichte der Gebrüder Grimm.
Neben ihrer Arbeit als produzierende Künstlerin ist sie auch als Sängerin aktiv. „Ich habe klassisches Klavier gelernt und war als Schülerin Solistin im Kirchenchor. Später nahm ich Unterricht in Jazzgesang“. Ihre Idole in der Musik sind die amerikanischen Jazzsängerinnen Diana Krall, Shirley Horn und der Sänger Al Jarreau. Das Repertoire von Iris Alter umfasst unter anderem Standards des Jazz, Bossa Nova und französischen Chansons. Seit vielen Jahren ist sie Performerin in Pariser Bars und Restaurants – veröffentlicht aber ebenso Texte im Bereich Kunst- und Gesellschaftskritik und schreibt Gedichte.
„Mir gefallen Lieder von Hildegard Knef, in deren Texte und Melodien man oft einen starken Ausdruck von Emotionen, sei es Freude, Trauer, Wut oder Hoffnung findet. Der Song „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ gehört zu meinem Repertoire“, sagt Iris Alter, die ein Dior-Kleid von der Interpretin in ihrem Fundus hat. In ihrem Spektrum sind auch das populäre Swingstück „Bei mir bistu shein“, das 1938 durch die Andrews Sisters bekannt wurde, das Chanson „Le Jazz et la Java“ von Claude Nougaro und der Samba-Titel „Brazil“.
„Das Ziel meiner Arbeit ist es, dass die Menschen beim Betrachten meiner Werke anfangen zu überlegen, sich Fragen stellen, sich öffnen. Ich rede öfters über schwierige Themen, versuche aber immer, sie in einer poetischen Art und Weise zu bearbeiten“, sagt die Künstlerin.
„Ich habe das Gefühl, in meiner Zeit auf Erden etwas tun zu müssen, ich will meinen Beitrag leisten und mit ihm auch etwas verändern. Das ist keine einfache Aufgabe, man mag mich eine Träumerin nennen, aber ich will mich nicht einfach zurücklehnen und die Zeit an mir vorbeiziehen lassen.“
Die Werke von Iris werden über ihre Webseite www.irisalter.com und auf ihren Ausstellungen zum Kauf angeboten – und auf Empfehlung von ihren Galeristen.
Ihre nächste große Ausstellung wird vom 17. bis zum 30. Juni 2024 sein, in der Galerie de l’Europe, 55 rue de Seine, 75006 PARIS (St. Germain) – Vernissage am 19.06.
Ihr nächstes Konzert in neuer Formation findet am 17. Februar 2024 statt im OSMOZ CAFÉ, 33 rue de l’ouest, 75014 Paris (Montparnasse)
Text & Fotos ©Stephan Gabriel – www.stephan-gabriel.de